Ankunft
Wiesen und Wälder leuchteten in saftigem Grün. Bunte Blumen säumten den Straßenrand, Insekten und Vögel schwirrten umher. Es war Frühling in Deutschland. Fasziniert schaute Eddy Erdmännchen aus dem Auto, während er mit seinem Freund, dem Hund Charly und dessen Herrchen vom Flughafen zu seinem neuen Zuhause fuhr.
So musste es in der Regenzeit sein, von der die Alten in Afrika oft erzählten.
Allerdings erschien Eddy so manches auch recht merkwürdig.
„Die Büffel sehen hier ganz schön gelangweilt aus.“
„Das sind doch keine Büffel,“ lachte Charly. „Das sind Kühe. Hier gibt es halt keine großen Raubtiere. Da sind die alle voll entspannt.“
„Keine Raubtiere? – Cool!“ Eddy war begeistert. „Und warum haben die Zebras hier keine Streifen?“
Belustigt aber geduldig antwortete Charly auch auf diese Frage.
„Das sind keine Zebras, Eddy. Das sind Pferde, auf denen reiten die Menschen.“
„Reiten?“
So ging das die ganze Fahrt lang. Hier war wirklich alles ganz anders, als es Eddy aus Afrika gewohnt war. Und sein Staunen wurde noch größer, als sie schließlich die Stadt erreichten. Häuser ragten wie Felswände an beiden Seiten der Straße auf. Darüber brausten Autos, Mopeds, Lastwagen und Fahrräder. Und überall wuselten Menschen wie Ameisen umher. Das hatte absolut gar nichts von der Welt, die die Heuschrecke Eddy in Afrika beschrieben hatte. Aber soviel war sicher: Zu entdecken gab es hier reichlich.
Eddys neues Zuhause
Die ersten Tage in seinem neuen Heim bei den Menschen vergingen für Eddy wie im Flug. Das Essen war lecker, und alle waren sehr nett zu ihm. Er tobte mit den Menschenkindern im Garten, ließ sich von einer Biene in Blumenkunde unterweisen, und er half einem Dompfaffpärchen beim Nestbau. Manchmal traf er sich auch mit Tom, einem alten Maulwurf. Mit dem führte er dann stundenlang Fachgespräche übers Erdlöcher buddeln. Aber mit der Zeit war das alles nichts neues mehr, und Eddy begann sich zu langweilen.
„Du Charly, kann ich nicht mal mit euch rausgehen? Ich kenne langsam jeden Grashalm hier.“
„Mmh, weißt du, die Menschen da draußen kriegen schnell Angst, wenn sie etwas sehen, das sie nicht kennen.“
„Aber ich tu doch keinem was.“
„Das erklär mal einem Menschen! Und außerdem lauern dort draußen viele Gefahren.“
„Ich bin mit Löwen und Hyänen aufgewachsen. Da kommst du mir mit Gefahren?!“
„Unterschätze nie eine große Stadt.“ Der sonst so lustige Charly schaute Eddy mit ungewohnt ernstem Blick an, und Eddy stieß einen langen Seufzer aus. Er wusste, dass es sein Hundefreund gut mit ihm meinte. Allerdings war ihm oft aufgefallen, wie dieser sich freute, wenn sein Herrchen mit ihm das Haus verließ. So wurde seine Neugier auf die Welt da draußen immer größer. Bis er es eines Tages nicht mehr aushielt.
Das Abenteuer ruft
Sein Maulwurfkumpel Tom hatte Eddy erlaubt, einen seiner Geheimgänge aus dem Garten zu benutzen. Der war zwar etwas eng, aber er führte ihn direkt in eine kleine Wiese in der Nähe des Hauses. Doch irgend etwas war eigenartig: Kaum hatte Eddy seinen Kopf aus dem Maulwurfstunnel gesteckt, stieg ihm ein seltsam vertrauter Geruch in die Nase. Er schnupperte umher, als plötzlich Charly vor ihm stand.
„Eddy? – was machst du denn hier?“
„Ääh Charly? – Du? – Hier?“
Der Tunnel hatte ihn mitten in Charlys Hundewiese geführt. Da stand Eddy nun vor seinem Freund und hatte ein fürchterlich schlechtes Gewissen.
„Weißt du,“ versuchte er sich zu rechtfertigen, „eigentlich wollte ich doch nur….“
„Ach Eddy, ich verstehe dich doch,“ kam ihm Charly zuvor.
„Wirklich?“
„Aber klar! Du bist ein Wildtier. Dich sperrt man nicht einfach in einen Garten. Und schließlich wolltest du ja auch die Welt endecken.“
„Und was mache ich jetzt?“, seufzte Eddy
Charly schaute seinen Freund verständnisvoll an. „Halte dich von den Straßen fern und von den Menschen. Versuche unbemerkt zu bleiben…“
Charly gab Eddy alle guten Ratschläge, die ihm einfielen. Er kannte schließlich die Gefahren, die in der großen Stadt auf Eddy lauerten. Aber seinen Freund unglücklich zu sehen, hätte ihm das Herz gebrochen.
„Und denk dran,“ beendete Charly schließlich seine Erklärungen, „unsere Tür steht dir immer offen.“
„Ich weiß, Charly. Und das bedeutet mir sehr viel“
Dann war es Zeit Abschied zu nehmen.
„Danke, mein Freund, für alles, was du für mich getan hast.“
„Es war mir ein Vergnügen, Eddy. Jetzt aber schnell, mein Herrchen kommt zurück.“
„Mach’s gut Charly!“
„Leb wohl mein Freund!“
Allein in der großen Stadt
Charly hatte Eddy den Weg zum nahe gelegenen Stadtpark erklärt. Dort angekommen versteckte er sich erst einmal bis es dunkel wurde, und die letzten Menschen den Park verlassen hatten. Dann machte er sich unbemerkt auf den Weg. Unbemerkt?
Von irgendwoher aus der Dunkelheit drang ein leises Knurren zu ihm. Eddy stockte der Atem. Diesen Laut kannte er nur zu gut aus seiner Heimat, und er bedeutete: Lebensgefahr. „Ein Gepard!“
In wilder Panik stürzte er los, hetzte quer durch den Park, um schließlich unter ein kleines Gebüsch zu kriechen. Da hockte er nun und starrte in die Dunkelheit. Nach und nach beruhigte er sich wieder und es gelang ihm allmählich, seine Gendanken zu sortieren.
„Ein Gepard? – ich dachte, hier gibt’s keine großen Raubtiere,“ dachte Eddy und lugte vorsichtig aus seinem Versteck.
„Rrrrr!“
„Haaah!“
Er schaute auf zwei funkelnde Punkte direkt vor sich, und die Punkte starrten auf ihn.
Langsam kam der Mond hinter einer Wolke hervor und warf sein mattes Licht auf das Tier: Schnurrhaare, runde Ohren, geflecktes Fell aber… .
„Hm – Du bist aber ein kleiner Gepard,“ stellte Eddy fest.
„Ge-Was?“, kam es zurück.
„Gepard. Oder was bist du?“
„Gepard? – nie gehört.“ Dann richtete sich das Tier auf. „Ich bin eine: Bengalkatze,“ verkündete es stolz.
„Puh!“ Erleichtert atmete Eddy aus. “Ich dachte schon, du wolltest mich fressen.“
„Dich fressen? Einen Hasen? Igitt! Und dann noch so einen mickrigen. Nein danke! Beim Essen bin ich wählerisch,“ säuselte die Katze hochnäsig.
„Ich bin kein Hase!“
„Na, das erklärt ja alles.“
Eddy war zwar erleichtert aber eigentlich auch ziemlich beleidigt. Die Katze klang doch recht überheblich. Dabei war sie die mickrigste Katze, die er je gesehen hatte.
„Also, da wo ich herkomme, sind die Katzen so groß wie ein Mensch und so schnell wie ein Auto.“
„Ach. Dann bist du also aus dem Zoo ausgebrochen.“
„Aus dem Zoo? Spinnst du?!“
„Stimmt – wer guckt sich im Zoo schon mickrige Hasen an?!“
„Vielleicht komme ich ja aus Afrika?!“, raunzte Eddy.
„Du bist mir ja ein Einfallspinsel. Afrika gibt es doch gar nicht,“ belehrte ihn die Katze besserwisserisch. Dann wandte sie sich ab. „ Ich geh mal besser wieder zu meinem Frauchen. Da kann ich mich wenigstens im Warmen langweilen.“
Dann zottelte sie kopfschüttelnd Katze davon.
‘Wenn die wüsste, wie wenig sie von der Welt weiß.’, dachte Eddy und schaute sich um. Ringsumher nichts als dunkler Wald.
„Na toll! Verlaufen! Und jetzt?“
Ihm fiel ein kleines Licht auf. Darauf ging er zu. Schnell wurde es heller und lauter, bis er plötzlich vor einer großen Straße stand. Unaufhörlich rasten Autos darüber, und überall waren Menschen. Genau hier sollte er nicht sein.
Es kam, wie es kommen musste: Eine alte Dame hatte ihn entdeckt. Erschrocken schrie sie auf, und ehe Eddy sich versah, war er von einer Menschentraube umringt.
Beherzt schlüpfte er zwischen zwei gaffenden Menschen durch und kam direkt am Straßenrand zum Stehen. Jetzt gab es nur einen Ausweg: Flucht nach vorn.
Ein Blick nach links einer nach rechts, dann rannte er los. Reifen quietschten, Motoren heulten auf, ein Radfahrer stieß einen lauten Fluch aus. Aber irgendwie schaffte es Eddy unbeschadet auf die andere Seite. Weiter ging es durch unzählige Gassen, bis er schließlich in einem großen Innenhof zum Stehen kam.
Da stand er nun völlig außer Atem, umgeben von den Mauern eines großen, halb zerfallenen Gebäudes. Hier gab es offensichtlich nicht einmal Menschen.
Er entdeckte eine Feuerleiter. Die kletterte er hoch, hockte sich in eine dunkle Ecke und schaute erschöpft über die Stadt – ein Lichtermeer, obwohl es dunkelste Nacht war. Tja die Stadt der Menschen war nicht so idyllisch, wie er anfangs dachte. Sie war laut, hell und überall stank es. Und sie war ein echtes Labyrinth.
Jetzt verstand er vor welchen Gefahren ihn Charly gewarnt hatte – zu spät.
„Wie finde ich hier bloß wieder raus?“, murmelte Eddy verzweifelt.
In dem Moment drang von irgendwoher ein vertrauter Klang zu ihm. Und tatsächlich, in der Ferne entdeckte er einen spitzen, hohen Turm.
„Der Kirchturm,“ erinnerte er sich. „Den hat mir Charly doch auf dem Hinweg gezeigt.“
Gleich stieg seine Laune wieder; denn jetzt hatte Eddy ein Ziel.
Er beschloss sich tagsüber zu verstecken und nur nachts zu gehen. So blieb er unentdeckt vor den Menschen.
Allerdings traf er nachts auch niemanden, den er nach dem Weg fragen konnte. Außer ein paar Hausratten. Aber die waren ziemlich scheu und verkrümelten sich, sobald sie ein Tier sahen, das größer war als sie selbst. So kam er seinem Ziel kaum näher. Die Tage vergingen, und mit jedem Tag fühlte Eddy sich einsamer. Doch schlimmer noch war der Hunger. Schließlich hatte er schon lange nichts mehr gegessen. Irgendwann fielen ihm fette braune Käfer auf, die um die Straßenlaternen schwirrten. Er stellte sich vor, dass sie ihm einfach tot vor die Füße fielen – wie die Heuschrecken in Afrika. Aber das machte ihn nur noch hungriger.
Die Rettung
Eines Nachts – Eddy hatte gerade ein Versteck für den kommenden Tag gefunden – ließen ihn zwei fremde Stimmen aufhorchen.
„Hau ab, den habe ich entdeckt.“
„So, und warum halte ich ihn dann in den Pfoten?“
„Weil du dich mal wieder vorgedrängelt hast.“
Zwei Hausratten schienen sich um irgend etwas zu streiten. Sie waren so beschäftigt, dass ihnen Eddy, der sich ihnen genähert hatte, gar nicht auffiel.
„Hey Leute,“ rief er den Ratten zu. „Könnt ihr mir mal helfen?“
Erschrocken starrten sie das Erdmännchen an. Ein solches Tier hatten sie noch nie gesehen.
„Wawas bist du?“, rief die größere der beiden Ratten mit zittriger Stimme.
„So einen habe ich mal im Zoo gesehen,“ rief die andere Ratte.
„Vielleicht ist das ein Löwe!“
„Hey Mann, bleibt locker,“ versuchte Eddy die beiden Gesellen zu beruhigen.
„Oder eine Schlange!“, schrie die kleinere Ratte.
„Ja klar! Eine Schlange mit Fell!“, gab Eddy amüsiert zurück.
Aber die Ratten waren nicht mehr zu beruhigen. Für sie war Eddy irgendein fremdartiges Monster.
„Tututu uns nichts,“ riefen sie durcheinander. Dann drängten sie sich vorsichtig an Eddy vorbei, um gleich darauf schreiend das Weite zu suchen.
„Hey Leute, bleibt doch…“ rief Eddy ihnen nach. Aber vergebens.
Da stand er nun und schaute den beiden Nagern hinterher, als er plötzlich ein leises Winseln direkt vor sich vernahm. Er schaute nach unten. Am Boden lag ein dunkelbraunes Fellknäuel. Es hatte kleine Knopfaugen, riesige Ohren und Flügel.
„Hee, du!“, sprach Eddy das Knäuel an. „Bist du verletzt?“
“Ich glaube nicht,“ kam es von dem merkwürdigen Wesen zurück. Dann blickte es zögerlich auf.
„Keine Angst – ich tu dir nichts,“ beruhigte es Eddy.
„Danke, dass du mich gerettet hast. Wie kann ich das bloß wieder gut machen?“
„Aach, das war doch nichts. “ der vertraute Glockenschlag unterbrach Eddy. Der sogleich aufsprang. „Da!“, rief er. „Hast du das gehört? – Wie komme ich dahin?“
„Na so ein Zufall,“ antwortete das kleine Tier und rappelte sich auf. „Da wohne ich. Schnell, Komm mit – wenn wir uns beeilen, schaffen wir es sogar noch zum Festmahl.“
“Festmahl?“ Eddy traute seinen Ohren nicht. Festmahl! – Das Wort klang wie tausend Engelschöre in Eddys Ohren.
“Festmahl! Nichts wie hin!“, rief er freudestrahlend.
„Mir nach!“ Das kleine Tier sprang auf. Doch bevor es sich auf den Weg machte, hielt es kurz inne und schaute Eddy fragend an. „Wie heißt du eigentlich?“
„Ich bin Eddy Erdmännchen.“
“Hallo Eddy Erdmännchen, ich heiße Bruno Fledermaus.“
„Freut mich, Bruno.“
Dann flitzten sie los, und bereits am Abend hatten sie ihr Ziel erreicht – eine alte Kirche, inmitten eines wunderschönen Parks. Doch als sie den betraten, kamen Eddy Zweifel: Wer weiß, was eine Fledermaus unter einem Festmahl versteht?!
„Ääh, du, sag mal, was esst ihr Fledemäuse denn so?“
„Naja normalerweise jagen wir Insekten. Aber ich finde jagen eigentlich…“
„…total doof,“ beendete Eddy Brunos Satz.
„Haha! Genau!“ rief Bruno begeistert. „Du auch?“
„Oh ja!“, antwortete Eddy selbstbewusst.
„Dann ist heute unser Tag. Schau mal!“
Bruno zeigte nach oben. Da waren sie wieder. Im grellen Licht einer Straßenlaterne flatterten Hunderte – nein, Tausende der dicken Käfer, die Eddy schon seit Tagen beobachtete. Sie schienen in der Luft miteinander zu tanzen, um dann, ganz plötzlich, tot vom Himmel zu fallen. – Maikäfer.
Nach all den Entbehrungen der letzten Tage, erlebte Eddy jetzt das schönste Festmahl seines Lebens. Und er hatte einen neuen Freund gefunden – seinen besten Freund und ein genauso neugieriges Kerlchen wie er selbst. Jetzt wusste Eddy, dass die größten Abenteuer seines Lebens noch vor ihm lagen.