Ankunft

„…Muck, wurde dicker und dicker. Und auch seine Zähne wurden schlechter von all den Süßigkeiten. So wurde aus dem einst so stattlichen Waschbär ein träger Naschbär. Eines Tages…“
Waschbärenmutter Randy unterbrach ihre Gutenachtgeschichte, als sie ein Klopfen vom Eingang ihres Baus hörte. Auch ihre Tochter Nina horchte auf.
„Mama, es hat geklopft.“
„So spät noch?“
Die Waschbärin ging zur Tür und öffnete sie langsam.
„Überraschung!“, tönte es ihr entgegen.
„Conny?“, Randy traute ihren Augen nicht. „Conny, du bist es wirklich!“
In der Tat: Die Überraschung konnte nicht größer sein; denn vor ihr stand ihr Bruder Conny, den sie schon so lange nicht mehr gesehen hatte.
„Onkel Conny!“, jetz kam auch die kleine Nina hinzugeeilt und begrüßte ihren Onkel freudestrahlend.
„Hallo meine Lieben!“ Mit leuchtenden Augen und breiten Lächeln stand Waschbär Conny vor seiner Schwester und ihrer Tochter. Endlich war er am Ziel seiner langen Reise angekommen. Welch ein Wiedersehen!
Nach einer langen und herzlichen Begrüßung, trat Conny einen kleinen Schritt zur Seite.
„Ich möchte euch einen Freund vorstellen: Das ist Eddy Erdmännchen.“
Etwas schüchtern trat Eddy aus dem Hintergrund hervor.
„Guten Abend zusammen.“
Randy schaute Eddy ungläubig an: „Eddy Erdmännchen? Das Eddy Erdmännchen?“
„Äh, gibt es denn noch ein Eddy Erdmännchen?“, murmelte Eddy etwas verlegen.
Staunend, ja ehrfürchtig standen Randy und Nina vor Eddy.
Conny zwinkerte seinem Freund zu: „Tja Eddy, dein Ruf ist dir wohl vorausgeeilt.“
„Was für ein Ruf denn?“
„Keine falsche Bescheidenheit.“
„Alle hier kennen die Geschichten von den Seedrachen,“ begann Randy zu schwärmen, „und auch von dem Eisbären und deinem Flug auf dem Adler.“
„Ach echt?“, Eddy war sichtbar erstaunt.
„Es heißt sogar, du hättest mit einem Zirkus vor dem englischen Königshaus gespielt.“
„Tja, also… . Ist alles wahr!“
„Boah!“, Nina strahlte Eddy an. „Auch das mit der Mondlandung?“
„Ääh – Mondlandung?“, Eddy war irritiert, und Conny musste sich das Lachen verkneifen.
„Ach ja, es wird viel erzählt,“ winkte Randy ab. „Kommt erst mal rein, ihr habt sicher einen Bärenhunger.“
„Oh ja! – einen Waschbärenhunger,“ entgegnete Conny.
Randys Bau lag ganz in der Nähe einer großen Menschenstadt; denn wo Menschen waren, fand man auch immer Essbares. Außerdem gab es im nahe gelegenen Wald Beeren, Wurzeln und Pilze. Es war also von Allem genug da. Welch ein Glück; denn unsere Freunde hatten ihren Reiseproviant längst aufgebraucht.

Glück und Sehnsucht

Die Tage bei Connys Schwester waren unbeschwert. Randy bekochte und umsorgte unsere Freunde. Dafür übernahm Eddy die Aufgabe, der kleinen Nina von seinen Erlebnissen zu erzählen. Die waren einfach viel interessanter als Mamas Kindergeschichten. Und auch Conny war immer wieder beeindruckt, wenn er Eddy bei seinen Erzählungen lauschte.
„Ich glaube, irgendwann werden auch die Menschen von deinen Abenteuern erzählen.“
„Glaubst du etwa Menschen interessieren sich für Erdmännchen-Geschichten?!“

Eddy schloss Connys Familie schnell ins Herz. Aber wenn er die Waschbären so zusammen sah, packte ihn die Sehnsucht. Er hatte seit Jahren keinen Artgenossen mehr gesehen und sehnte sich danach, einfach mal wieder die alten Erdmännchenlegenden zu hören oder über Erdmännchenprobleme zu quatschen. Er musste ständig an Louis denken – das Erdmännchen, von dem ihm das Krokodil im Loch Ness erzählt hatte.
Das musste doch ganz in der Nähe sein…
„Sag mal, Randy, gibt es eigentlich einen Zoo in der Stadt?“
„Oh ja, Eddy! Buah! Fürchtericher Ort!“ Randy erschauderte.
„Und wie finde ich den?“
„Die Menschen haben überall Schilder aufgestellt,“ sagte Nina.
„Soso.“ Conny schaute sie skeptisch an. „Du kannst also die Menschenschrift lesen.“
„Jedes Kind lernt das Menschenzeichen für Zoo,“ belehrte ihn seine Schwester.
„Genau!“, stimmte Nina sebstbewusst zu. „Ein Blitz und zwei Kreise.“
Die drei Waschbären waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie zunächst nicht bemerkten, wie Eddy seinen Rucksack aufschnallte.
„Du bist wirklich ein sehr kluges Waschbärenmäd….“ Conny unterbrach seinen Satz. „Eddy, was hast du vor?“
„Naja, in jedem Zoo gibt es doch auch Erdmännchen, und…“
„…du möchtest Deinesgleichen treffen,“ unterbrach ihn Randy. Dann stieß sie einen tiefen Seufzer aus. „ Mein lieber Eddy. Tu das nicht, es ist einfach zu gefährlich.“
„Macht euch keine Sorgen, ich bin Ruckzuck zurück.“
Conny schüttelte den Kopf: „Ich finde das gar keine gute Idee.“
Es entbrannte eine rege Diskussion. Die Waschbären verstanden Eddy nur zu gut. Schließlich waren sie ja selbst aus ihrer Heimat Amerika ausgewandert. Aber sie waren eben auch sehr besorgt.
„Weißt du was, Eddy?“ Conny schaute seinen Freund mit einem väterlichen Blick an. „Schlaf doch einfach mal eine Nacht darüber, und morgen sehen wir weiter.“
„Und jetzt wird erst mal gegessen,“ beendete Randy das Thema.

Auf ins Abenteuer

Der Morgen kam. Und wie fast jeden Morgen war Nina zu Eddy gegangen, um ihn zu wecken. Aufgeregt kam sie zurück.
„Mama, Onkel Conny… Eddy ist verschwunden!“
„Oh nein! Er hat er es wirklich wahr gemacht.“ Conny vernahm die tiefe Sorge aus Randys Stimme und versuchte sie mit etwas Optimismus zu beruhigen:
„Er ist mutig und schlau – dem wird schon nichts zustoßen.“

Eddy hatte schon nach kurzer Zeit die Menschenstadt erreicht. Er wartete bis es dunkel wurde. Dann folgte er den Schildern zum Zoo. Wie man unbemerkt durch eine Stadt kommt hatte er ja bereits in Deutschland gelernt, und so war er schnell am Ziel.
„Der Zoo.“
Ein wenig mulmig war ihm schon, als er auf den großen Schriftzug über dem Eingang schaute. Alle Besucher waren bereits gegangen. So konnte er sich unbeobachtet unter dem Zaun durchbuddeln, der den Tierpark umgab.
„Das war ja schon mal ein Kinderspiel.“
Auf leisen Sohlen schlich er an den Tiergehegen vorbei. Nichts regte sich. Die Tiere hatten sich längst zur Nachtruhe begeben. Dann sah er es: das Erdmännchengehege – ein großer Glaskasten, in dem eine afrikanische Landschaft nachgebildet war. Direkt daneben: der Krokodilteich. Also alles wie es ihm „Nessie“ beschrieben hatte.

Die Erdmännchen

Vorsichtig klopfte Eddy ans Glas. Dann rief er mit gedämpfter Stimme nach seinen Artgenossen:
„Hallo, jemand zu Hause? – Haaallo!“
In der Mitte des Geheges befand sich ein kleiner Hügel mit ein paar Löchern – ganz offensichtlich der Erdmännchenbau. Und tatsächlich: Nach und nach kamen die Bewohner aus den Eingängen des Baus gekrochen. Tuschelnd und murmelnd versammelten sie sich vor der Glaswand und starrten Eddy ungläubig an. Dann trat ein älteres Erdmännchen nach vorn. „He, du bist auf der falschen Seite der Scheibe!“
„Neee, ich bin auf der richtigen Seite. Schließlich bin ich hier in Freiheit,“ antwortete Eddy. Ein weiteres Erdmännchen trat nun hervor.
„Und was soll an Freiheit richtig sein?“, fragte es altklug.
„Na, ich kann gehen, wohin ich will.“
„Und wohin bringen sie dann dein Essen?!“, rief ein anderer Artgenosse.
„Mir bringt keiner was zu essen.“
So ging das die ganze Zeit. Die Erdmännchen im Gehege waren im Zoo geboren und wussten nichts vom Leben da draußen. Und eigentlich interessierte sie es auch nicht.
„Langweilt ihr euch denn nicht?“, fragte Eddy.
„Wieso? – wir stehen vor dem Bau und halten Ausschau.“
„Ist unser Job!“, fügte das ältere Erdmännchen hinzu.
„Ausschau? – Wonach?“
„Es kommen jeden Tag Menschen hierher, die wir beobachten sollen.“
Eddy musste schmunzeln: „Also, hähä, das ist ja wohl eher umgekehrt.“
„Ach papperlapapp,“ tönte es zurück.
Eddy seufzte. „Und ich fand das Leben in Afrika langweilig.“
„Afrika? – wäre mir zu gefährlich.“
„Und zu groß.“
„Und viel zu heiß.“
Tja, das war wohl nichts. Von wegen Erdmännchengespräche führen. Sprachlos stand Eddy da und starrte auf den großen Glaskasten. Dann begann es auch noch zu regnen, und die Erdmännchen flüchteten eilig in ihre Behausung.
„Dann viel Spaß noch in der Freiheit,“ rief ihm noch einer seiner Artgenossen zu. Und Eddy hörte noch Gelächter und Dinge wie ‘Komischer Kerl’. Dann wurde es still.
Alle Erdmännchen waren verschwunden. Alle, bis auf eins. Ein kleines hageres Kerlchen mit einem schwarzen Punkt auf der Brust trat hervor.
„Nimm’s ihnen nicht übel, die haben eben keine Fantasie. Ich würde gern mal Afrika kennenlernen.“

Der Ausbruch

Eddy schaute den kleinen Kerl an. Die Beschreibung passte genau.
„Du musst Louis sein.“
„Du kennst mich?“
„Oh ja, ich habe einen Freund von dir getroffen.“
Dann begann Eddy von seiner Begegnung mit dem Krokodil im Loch Ness zu erzählen.
Louis seufzte: „So ein spannendes Leben hätte ich auch gern…“
„Dann komm doch einfach mit.“
„Und wie soll ich hier rauskommen?“
„Bist du vielleicht ein Erdmännchen?!“
„Ääh, ja. – Und?“
„Na. wir graben einen Tunnel.“
„Einen Tunnel?“
„Erdmännchen sind Meister im Löcher buddeln.“
„Echt? – Warum sagt einem das keiner?!“
„Komm ich zeig’s dir.“
Sogleich begann Eddy zu graben. Louis schaute aufmerksam zu, und nach einer Weile begann auch er zu buddeln.
„Das geht ja ganz leicht. Ich wusste gar nicht, dass ich sowas kann.“
„Das liegt uns im Blut.“
Der Glaskasten hatte ein tiefes Fundament und so mussten sie sehr tief graben. Aber ihre Mühe wurde belohnt, und schließlich hatten sie den perfekten Fluchttunnel gegraben. Im Nu war Louis hindurchgeschlüpft und stand nun vor seinem Zuhause.
„Ich war noch nie hier draußen.“
„Dann wurde es aber höchste Zeit. Du glaubst gar nicht, was ihr da drinnen alles verpasst.“
„Mmh, meinst du?“
„Klar, tausend Abenteuer!“
„Echt?“ Louis schaute Eddy mit strahlenden Augen an. „Warte hier!“
Dann flitzte er durch den Tunnel und verschwand im Erdmännchenbau. Nach einer kurzen Weile kehrte er zurück.
„Ich musste doch wenigstens Lebewohl sagen.“
„Ist doch klar. Da, schau mal!“
Alle Erdmännchen waren aus ihrer Behausung gekommen und hatten sich vor dem Tunneleingang aufgestellt. Schweigend blickten sie in das Loch hinab. Dann begannen sie Louis zuzuwinken. Sie wussten, dass sie ihn wahrscheinlich nie wieder sehen würden.

Die Flucht

„Komm Louis, es wird bald hell.“
Ein letztes mal drehte sich Louis zum Gehege, und Eddy konnte Tränen in seinen Augen erkennen.
„Lebt wohl ihr Lieben, und grüßt das Krokodil von mir!“
Dann rannten sie los, geradewegs Richtung Ausgang.
Das Treiben vor dem Erdmännchengehege war nicht unbemerkt geblieben. Die Affen nebenan waren aufgewacht und begannen jetzt ein fürchterliches Theater. Das hörten die Elefanten. Und auch die stimmten in den Lärm ein. Dann die Löwen, die Büffel und viele mehr. Es kam, wie es kommen musste. Eine Alarmsirene ertönte, Lichtstrahler gingen an, und überall rannten Zoowärter herum. Es herrschte helle Aufregung.
„Oh nein! Das war’s.“
„Komm Louis, hier rein.“
Hastig krochen Eddy und Louis unter eine alte Fichte, die ihre Äste bis zum Boden herabhängen ließ.
Da hockten sie nun. Sie blickten auf Füße von vorbeilaufenden Wärtern, hörten das Hecheln der Wachhunde. Es schien nur eine Frage der Zeit zu sein, dass man sie aufspüren würde.
Aber nichts geschah. Im Gegenteil: Nach einer Weile wurde es ruhiger. Und so wagte Eddy einen vorsichtigen Blick hinaus.
„Alle weg! Los komm, das ist unsere Chance.“
Jetzt kam auch Louis hervorgekrochen.
„Wo sind die denn alle hin?“
Auf leisen Sohlen schlichen sie über den breiten Weg, der direkt zum Ausgang führte. Louis warf noch einen letzten Blick zurück.
„Eddy, guck mal! Da!.“
Eddy drehte sich um und sah in der Ferne drei, vier Erdmännchen über die Wege des Zoos flitzen. Dahinter: aufgeregte Wärter. Wie es aussah, hatten auch die anderen Erdmännchen ihr Gefängnis verlassen.
„Los Louis, wir müssen denen helfen.“
„Bleib hier! Schau mal dort.“
In einiger Entfernung stand ein Erdmännchen und gab unseren Freunden ein Zeichen zu verschwinden. Ganz offensichtich war der Ausbruch nur ein Ablenkungsmanöver, um Eddy und Louis bei ihrer Flucht zu helfen.
Dankbar nickte Louis dem Erdmännchen zu. Dann rannten sie los, unter der Umzäunung des Zoos durch, raus aus der Stadt, hinaus in die Freiheit.
Schließlich kamen sie auf einem Hügel vor der Stadt zum Stehen. Das Tal zu ihren Füßen war von Nebelwolken bedeckt, die sanft an den Hügel brandeten. Darüber ging die herbstliche Sonne auf.
„Eddy, hörst du das?“
„Oh ja. Das ist das Meer.“
Überwältigt blickte Louis in den Sonnenaufgang und lauschte der Brandung.
„Und wo liegt Afrika?“
Eddy zeigte nach Süden. Dann wurde er sehr nachdenklich. Er hatte jetzt ein Versprechen einzulösen: Seinen neuen Freund Louis nach Afrika zu bringen.
Aber dorthin war es noch ein sehr langer Weg.