In großen Wellen brandete der Ozean an den Strand von Island. Schwarzer Vulkansand bedeckte das Ufer, und überall ragten Felsen auf, an denen sich die Wellen brachen. Eddy Erdmännchen saß auf einem der Brocken und genoss schweigend den überwältigenden Anblick. Er kam fast jeden Tag zu seinem Felsen, um einfach nur darauf zu sitzen und seinen Gedanken nachzuhängen.
„Hey, Eddy, schau mal.“
Ernest der Gänserich war am Himmel aufgetaucht und machte ein paar verrückte Flugkunststücke. Eddy war beeindruckt:
„Super! Wie es aussieht, geht es deinem Flügel wieder besser.“
Gekonnt landete der Vogel neben Eddy.
„Oh ja! Aber ich hatte ja auch gute Pflege.“
„Du meinst die Pip?!“
„Charlotte,“ korrigierte ihn der Gänserich etwas verschämt.
„Soso, Charlotte!“
„Ich glaube, sie mag mich.“
„Ja, das glaube ich auch,“ murmelte Eddy nachdenklich.
„Sie ist wirklich sehr nett. Und sie ist klug. Wusstest du, dass sie eigentlich aus Frankreich kommt… „
Errnest geriet ins Schwärmen. Er erzählte und erzählte, während Eddy stumm daneben saß.
„…und als sie hierher nach Island kam, hat sie…“, Der Gänserich spürte, dass etwas nicht stimmte und unterbrach seinen Redefluss. „Eddy?- Alles in Ordnung?“
„Jaja.“
“Wirklich?“
„Jaahaa!“, fuhr Eddy seinen Freund an.
„Ist ja gut.“
Eine ganze Weile saßen die beiden nun da und schwiegen. Dann ging Ernest Licht auf.
“Ooh Eddy – Nein! Du denkst, du kommst nicht mehr hier weg, wenn Charlotte und ich…“
„…naja, ich würd’s ja verstehen!“, unterbrach ihn Eddy.
Ernest richtete sich auf, und schaute seinen Freund ein wenig beleidigt an.
“Also, ich habe versprochen, dich nach Afrika zu bringen. Hast du schon mal je von einer Wildgans gehört, die ein Versprechen gebrochen hat?“
„Ääh.. eigentlich nicht. Aber was ist mit deinem verletzten Flügel?“
“Bin ich nicht gerade geflogen?!“
„Ja, aber ohne Passagier.“
Entschlossen stellte sich Ernest vor seinen Freund.
“Okay Eddy! Das können wir ja gleich mal ausprobieren. Los steig auf.“
„Echt jetzt?“
“Alle man an Bord!“
„Okay!“
Eddy schwang sich auf Ernests Rücken. Der breitete seine Flügel aus, und dann hoben sie ab.
“Haha, siehst du? Ich…Aua, au, au, au!“
Der Gänserich zuckte vor Schmerz zusammen. Zum Glück waren sie noch nicht sehr hoch, und so waren sie schnell, wenn auch etwas unsanft, gelandet. Sie kullerten noch ein kleines Stück über den weichen Vulkansand; dann blieben sie liegen genau vor den Füßen von Waschbär Conny, der gerade zum Strand gekommen war.
„Hey Leute, cooler Stunt!“
Doch als keiner antwortete stutzte er.
„Ach, das war echt? – Oops!“
Ziemlich geknickt schaute Eddy den Gänserich an. „Ich glaube, fliegen können wir erst mal vergessen,“
“Aber was wird dann aus dir?“
Eddy war ratlos. Er wäre gern noch auf Island geblieben. Aber die Tage wurden bereits merklich kühler, und auf noch einen solch langen dunklen Winter wie den letzten, hatte er keine Lust.
Auf nach Schottland
Und wieder saßen sie da und schwiegen, bis Conny das Wort ergriff.
„Und wenn du erst mal bis nach Großbritannien kommst?“
„Das war ja mal unser Plan,“ seufzte Eddy.
„Perfekt! Ich wollte nämlich meine Schwester in Schottland besuchen. Komm doch einfach mit.“
„Und wie?“
„Na wir buchen einen Wal.“
„Einen Wal…“ Eddy wurde nachdenklich.
“Ein Wal?“, lachte Ernest, und dabei blickte er Conny ungläubig an. „Die Viecher sind doch total langsam.“
„Aber dafür ist ein Wal noch nie abgstürzt,“ gab Conny schlagfertig zurück.
Einen Moment war Schweigen. Dann lachten die drei Freunde laut los.
Es war also beschlossen. Und gleich liefen die Vorbereitungen an.
„Also… ,“ Conny betrachtete die Fahrpläne. „Der Nachmittagswal morgen ist ein großer Blauwal. Da ist wahrscheinlich ziemlich was los an Bord.“
„Wollen wir dann nicht lieber den Frühwal nehmen?“, schlug Eddy vor. „Da haben wir auch noch was vom Tag.“
Gesagt – getan. Am nächsten Tag, gleich in der Früh, brachen Eddy und Conny Richtung Schottland auf – per Pottwal. Und alle Tiere aus dem Tal kamen, um den beiden Lebewohl zu sagen. Allen voran Ernest:
“Verlass dich drauf, Eddy, sobald ich wieder fit bin, suche ich dich, und dann geht’s nach Afrika!“
Die Reise beginnt
Die Überfahrt verlief ruhig. Wale werden gern von Familien gebucht. Da können sich die Eltern auf dem weichen Walrücken ausruhen, während die Kinder in der Fontäne spielen. Bei einem solchen Vergnügen war natürlich auch Eddy ganz vorn mit dabei – wortwörtlich.
„Mama, der Hase drängelt sich immer vor!“
„Ich bin kein Hase!“
Schließlich erreichten sie den Norden Schottlands. Jetzt stand noch ein langer Fußmarsch an bis zu Connys Schwester. Das Wetter war diesig, was für schottische Verhältnisse schon ein Glück war; denn immerhin regnete es nicht. Die beiden genossen ihre Wanderung durch die wundervolle Landschaft und erzählten sich von ihren Abenteuern.
„… und dann sagte mein Kumpel: ‘Conny, wenn du…’, schau mal: Da ist wieder eins.“
„Das ist jetzt schon das dritte Schild,“ bemerkte Eddy.
Den beiden Wanderern war wiederholt ein Werbeplakat aufgefallen, auf dem ein Seeungeheuer abgebildet war. Eddy war sich sicher, dass es sich dabei um Nessie handelte – das Ungeheuer von Loch Ness. Großvater Oluf hatte so einige Geschichten über dieses urzeitliche Wesen erzählt.
Kleine Planänderung
„Los Conny, das sehen wir uns an.“
„Glaubst du, das gibt’s wirklich?“
„Das will ich ja rauskriegen.“
Ein Blick in Eddys Karte verriet ihnen, dass Loch Ness genau auf ihrem Weg lag. Und bereits am nächsten Tag hatten sie ihr Ziel erreicht.
„Da, Eddy, der See!“
„Sieht ja nicht sehr geheimnisvoll aus.“
Eine Weile standen unsere Freunde da und betrachteten das Gewässer. Aber wirklich beeindruckt waren sie nicht.
„Na komm,“ Eddy machte eine auffordernde Kopfbewegung. „Wenn wir schon mal hier sind….“
„Na gut, wenn du meinst.“
Sie fanden einen kleinen Felsvorsprung, von wo aus sie fast den ganzen See überblicken konnten. Dort ließen sie sich nieder und starrten etwas gelangweilt aufs Wasser. Stunden saßen sie schweigend da, aber nichts regte sich außer ein paar Nebelwolken, die von Westen über den riesigen See trieben und ihn zeitweise in einen scheinbar undurchdringlichen grauen Schleier hüllten. Schließlich ergriff Eddy das Wort.:
„Tja, das Ungeheuer hat wohl Urlaub. Also, meinetwegen können wir weiter.“
„Oh ja, sonst schlafe ich hier gleich ein.“
Etwas schwerfällig erhoben sie sich. Conny schnallte sich gerade seinen Rucksack auf, als plötzlich:
Da! Hast du das gesehen?“, aufgeregt rannte Eddy zum Ufer. „Da hat sich was bewegt!“
„Wo, wo, wo?“
„Da, bei der Insel! – Jetzt ist es weg.“
„Eddy?!“
Der Waschbär schaute Eddy mit einem skeptischen Blick an. Doch dieser schien es sehr ernst zu meinen.
„Glaub mir, da war was.“
„Also der Nebel…“, versuchte es Conny mit einer Erklärung. „… da kann man sich ganz schön täuschen.“
„Na gut!“, entschlossen nahm Eddy seinen Rucksack wieder ab. „Warte hier. Ich schnappe mir den Baumstumpf da vorn und paddle mal zu der Insel rüber.“
„Warum habe ich das Gefühl, dass ich dich nicht davon abbringen kann?“, frotzelte Conny.
„Hihi, bin gleich zurück!“
„Grüß Nessie von mir.“
Das Geheimnis von Loch Ness
Eddy nahm den Baumstumpf, legte sich darauf und paddelte genau auf die kleine Insel zu. Kurz bevor er dort ankam schlief der Wind ein. Keine Welle bewegte sich mehr, und es wurde still, so still als hätte der Nebel jedes Geräusch geschluckt.
„Hallo Nessie, wo bist du? – Hallo!“, Eddys Stimme hallte über den See, aber nichts geschah.
„Neesss…!“, Eddy stockte. “Ääh, was mache ich hier eigentlich?“
Plötzlch kam er sich reichlich blöd vor.
“Mann, das ist doch alles nur ein Märchen.“
Entschlossen wendete er seinen Baumstumpf und wollte sich gerade auf den Rückweg machen, als es passierte:
Ein großer dunkler Schatten glitt direkt unter ihm durch das Wasser. Schemenhaft erkannte Eddy einen riesigen Dinosaurier mit Flossen. Dann erhob sich der lange Hals des mysteriösen Wesens aus dem Wasser, um gleich darauf wieder abzutauchen.
Eddy stockte der Atem. Er fühlte sein Herz puckern.
„Unglaublich!“, hauchte er ehrfürchtig. „Es ist also doch wahr.“
Die Bewegung des Wassers verriet Eddy, dass der Saurier auf die nahe gelegene Insel zuschwamm. Dann war der Spuk vorbei.
Eine ganze Weile saß er wie benommen auf seinem Baumstumpf und überlegte, ob er dem Ungeheuer folgen sollte. Es wirkte ja eigentlich ganz friedfertig.
Doch was war das?
Die Wasseroberfläche kräuselte sich, und ein langer, schuppiger Körper mit einem riesigen Maul voller spitzer Zähne zog an Eddy vorbei. Zwei große Augenwülste ragten aus dem Wasser. Gab es hier vielleicht noch ein Ungeheuer? Eddy bekam es mit der Angst. Das Monster schwamm dicht an Eddy vorbei, klappte ein Augenlid auf und starrte ihn aus einem großen, gelben Auge an. Eddy zuckte zusammen. Vor sich erblickte er…
„…ein Krokodil!“
Er hatte noch nie zuvor ein Krokodil gesehen. Aber er kannte all die gruseligen Krokodilgeschichten, die man sich in Afrika erzählte.
Plötzlich dröhnte die tiefe, rauhe Stimme des Reptils in Eddys Ohren. „Louis? Hey, Louis – altes Erdmännchen! Was machst du denn hier?“
„Louis? Wer ist Louis?“ Zitternd blickte Eddy auf das riesige Tier, das ihm jetzt noch näher rückte und ihn eingehend musterte.
„Ääh, du bist ja gar nicht Louis.“ Dann senkte es die Stimme. „Tschuldigung, ich bin etwas kurzsichtig.“
Das Krokodil sah furchterregend aus, aber es klang eigentlich ganz nett. Außerdem war es offensichtlich mit einem Erdmännchen befreundet. So fasste Eddy wieder Mut. Doch bevor er etwas sagen konnte, war das Reptil abgetaucht.
„Hee, Warum haust du denn ab?“, rief Eddy ihm hinterher. „Bleib doch! Ich tu dir nichts!“
Aber das Krokodil war längst verschwunden. Jetzt war Eddy neugierig. Kurzentschlossen paddelte er der Welle hinterher, die das braungrüne Tier machte, genau auf die nahe gelegene Insel zu. Vor der Insel ragte ein dichter Schilfstreifen aus dem Wasser. Den durchschwamm er, bis das Ufer zum Vorschein kam. Erschöpft paddelte er bis auf den Strand, stieg von seinem Baumstumpf, und ging ein paar Schritte ins Landesinnere.
Doch was lag da?!
Im kargen Licht der Abenddämmerung erkannte Eddy den riesigen Körper des Seeungeheuers. Der Kopf lag im Sand des Ufers, die rechte Flosse ragte regungslos in den Himmel. Davor: das Krokodil.
„Nessie! Was hast du mit Nessie gemacht?“, rief Eddy entsetzt.
Das Reptil war sichtbar erschrocken über das Auftauchen des Erdmännchens. So stutzte es einen kurzen Moment, dann lachte es laut los.
“Hahaha, und ich dachte ich wäre kurzsichtig.“
Jetzt wurde Eddy stutzig. Vorsichtig ging er auf den leblosen Körper des Seeungeheuers zu und berührte es zaghaft.
„Ääh, das ist…
“Ja?“, fragte das Krokodil altklug und sichtlich amüsiert.
„Das, ääh, das ist ja gar nicht echt.“
„Schau an!“, lachte das Reptil. Dann sprach es mit gedämpfter Stimme weiter. „Aber sag es keinem – könnte mich meinen Job kosten.“
„Deinen Job?“
Jetzt begann das Krokodil zu erzählen. Es war im Zoo aufgewachsen. Aber irgendwann war die Langeweile dort unerträglich. Und dann bekam es das Angebot, während der Urlaubssaison in Nessieverkleidung durchs Loch Ness zu streifen. Hin und wieder mal ganz kurz auftauchen – den Rest konnte man getrost der Fantasie der Menschen überlassen. Eddy hörte dem Krokodil aufmerksam zu. Und mit jedem Wort wuchs seine Enttäuschung.
„Alles nur Theater,“ seufzte er.
“Aber du hast es geglaubt, stimmt’s?“
„Naja, war ja auch gut gemacht.“
“Danke!“
„Und wer ist Louis?“
“Louis ist mein Nachbar im Zoo. Das Erdmännchengehege grenzt nämlich direkt an meinen Teich. Er ist mein bester Kumpel und der Einzige, der mein Geheimnis kennt.“ Das Krokodil senkte seine Stimme. „Naja, jetzt ja wohl nicht mehr.“
Eddy richtete sich mit breiter Brust auf.
„Von mir erfährt niemand was.“
“Versprochen?“
„Kennst du nicht den Spruch: ‘Verschwiegen wie ein Erdmännchen’?“
“Äh, nee?!“
Eddy kannte den Spruch auch nicht, aber auf jeden Fall schien er das Krokodil zu beruhigen.
Sie saßen dann noch eine ganze Weile am Ufer des Sees, und Eddy musste dem schuppigen Reptil alles über Afrika erzählen. Schließlich wurde es Zeit zurückzukehren.
“Danke Eddy, es hat mich wirklich sehr gefreut.“
„Hat mich auch gefreut. Leb wohl!“
Eddys Geschichte
Spät nachts kehrte Eddy zurück und fand Conny schlafend an einen Fels gelehnt vor.
Als er seinen Freund so ansah, bekam er ein schlechtes Gewissen: Er hatte dem Krokodil versprochen, nichts zu verraten. Aber einen Freund anlügen?
Irgendwann schlief auch Eddy ein.
Als er morgens aufwachte, saß Conny bereits ungeduldig neben ihm.
„Los Eddy, erzähl, was ist passiert?“
Eddy rieb sich die Augen. Dann holte er weit aus:
„Oh Mann, Conny, ich sage dir: Du wirst es nicht glauben: Ein riesiges, urzeitliches Monster ist direkt vor mir aufgetaucht. Ein Dinosaurier mit Flossen und einem gaaanz langen Hals. Aber das ist noch lange nicht alles: Es gibt da auch noch ein großes Krokodil. Und der beste Kumpel des Krokodils ist ein Erdmännchen, und…“
„Hahaha, Eddy du bist so lustig.“ Conny hielt sich den Bauch vor lachen. „Ich könnte mich totlachen, hahaha.“
Eddys Plan ging auf. Diese Geschichte konnte er getrost jedem erzählen – sie war so verrückt, dass sie am Ende sowieso niemand glauben würde. Oder?